Viele noch etwas unerfahrene Weinliebhaber fragen sich oft: „Muss ich den Wein dekantieren?“ Oder: “Wie lange sollte ich den Wein in der Karaffe stehen lassen?“
Da sind wir schon bei zwei ganz verschiedenen Operationen der Weinvorbereitung. Dekantieren und Karaffieren werden oft in einen Topf geworfen und synonym verwendet. Dabei sind das zwei sehr verschiedene Methoden mit unterschiedlichem Zweck.
Unmittelbar bevor das Sediment mit dem Wein ausgegossen wird, will man beim Dekantieren das Abgießen stoppen. Um diesem Moment zu erkennen, hilft eine punktförmige Lichtquelle hinter dem Flaschenhals, die den ausfließenden Wein durchscheint. Eine kleine LED-Leselampe ist dafür besser geeignet als die klassische Kerze. Ein feines Dekantiersieb kann das noch viel feinere Depot nicht stoppen, es dient dazu, eventuelle Korkkrümel aufzufangen. (c) weinkellerschweiz.ch
Dekantieren ist ein terminus technicus aus der Chemie für den Prozess, zwei nicht mischbare Phasen unterschiedlicher Dichte durch vorsichtiges Abgießen voneinander zu trennen. Üblicherweise trennt man durch Dekantieren eine Flüssigkeit von einem Feststoff, der auf den Boden des Gefäßes gesunken ist. Und genau deshalb dekantiert man einen Wein: man will den klaren Wein von seinem Depot, also von ausgefallenen Feststoffen wie Weinstein oder durch Reifeprozesse polymerisierte Tannine und Gerbstoffe abtrennen. Die meisten tanninhaltigen Rotweine bilden im Laufe der Zeit ein Depot, weil sich ihre Polyphenole, meist induziert durch geringe Mengen von Sauerstoff, der bei der Lagerung des Weins durch den Korken diffundiert, zu längeren Ketten verbinden. So zusammengekettet verlieren sie einen großen Teil ihrer Bewegungsfreiheit – der Fachmann nennt sie Entropie -, und damit die Lust, im Wein gelöst zu bleiben. Sie fallen als feiner, rot-schwarzer Feststoff aus. Damit ist klar, dass Weine umso mehr Depot haben, je älter sie sind. Womit eine häufig gestellte Frage beantwortet ist: Sollte man einen alten, gar einen sehr alten Wein dekantieren? Ja! Gerade einen alten Wein sollte man von seinem Depot trennen! Junge Weine können gar nicht dekantiert werden, wenn sie noch gar kein Depot gebildet haben.
Warum kann man einen Wein nicht direkt ins Glas dekantieren? Das Dekantieren funktioniert natürlich nur, solange das Sediment am Boden der Flasche liegt und nicht im Wein dispergiert ist. Man muss also vermeiden, dass das Depot im Wein aufgewirbelt wird. Das aber passiert unweigerlich, wenn man nach dem Einschenken eine halb gefüllte Flasche wieder hinstellt – dabei entstehen immer Wirbel, die ein loses Depot mitreißen. Nur wenn das Depot im Laufe der Jahre fest auf dem Glas anhaftet und zusammengebacken ist, bleibt das aus. Man muss also beim Dekantieren die Flasche in einem Zug langsam leeren. Deshalb dekantiert man den Wein immer in einen Dekanter oder eine Karaffe; auch eine leere, saubere Wasser- oder Weinflasche ist eine Option, wobei man einen Trichter verwenden sollte. Eine Lichtquelle, die in einer Linie mit Auge und Flaschenhals hinter letzterem positioniert ist, hilft zu erkennen, wann der vom Depot getrübte Wein zu kommen droht. Dafür muss man keine Kerze nehmen, ich verwende immer eine mobile Leselampe mit einer punktföfmigen LED. Will man partout nicht in einem Zug dekantieren, sollte man einen Dekantierkorb benutzen, in dem die Flasche fast liegend, in einem Winkel von rund 30° abgestellt werden kann – so wird das Aufwirbeln des Depots beim Abstellen der Flasche minimiert.
Das Karaffieren dient dazu, einen Wein zu belüften, ihn atmen zu lassen. Man füllt dafür den Wein in eine Karaffe um, in der die Kontaktfläche zur Luft größer ist als in der Flasche. Besonders geeignet sind breitbauchige Karaffen, die gerade bis zur breitesten Stelle gefüllt sind, wenn sie eine ganze Flasche Wein enthalten. Wichtig beim Karaffieren ist, den Wein nicht zu warm werden zu lassen. Rotwein kommt am besten um 16°C ins Glas – je nach Wein auch kühler, oder aber bis zu 18°C. Aber nicht wärmer, denn das wird er im Glas ohnehin sehr schnell. Will ich einen Wein für einige Zeit karaffieren, sollte ich ihn an einen kühlen Ort stellen, am besten in den Weinkeller. Bei einem Weißwein kann man 15 Minuten vor dem Trinken die Karaffe in ein Eisbad stellen.
Was passiert an der Luft? In der ersten Stunde dominieren die physikalischen Effekte: es verdunsten und verfliegen leichtflüchtige Komponenten. Das können z.B. Mercaptane wie Ethanthiol und andere Alkylthiole sein, die in höherer Konzentration den Böckser verursachen, in niedrigerer Konzentration vegetabile, an Kohl erinnernde Töne verursachen. Auch die Konzentration von Aldehyden, Schwefelwasserstoff, Schwefeldioxid und selbst vom Alkohol sinkt: während 2 Stunden an der Luft verliert Wein rund einen Prozentpunkt Alkohol. Im Gegenzug nimmt der Wein Sauerstoff auf – in einer verschlossenen Flasche liegt kein freier Sauerstoff vor, weil der Wein allen verfügbaren Sauerstoff durch chemische Reaktionen verbraucht hat. An der Luft löst sich nun Sauerstoff im Wein – ein rein physikalischer Vorgang, so wie sich Salz in Wasser löst. Knapp 10 mg/l Sauerstoff können sich maximal in Wein lösen.
Langsamer als die Verdunstung sind chemische Reaktionen, die vom Sauerstoff ausgelöst werden. Lässt man einen Wein länger als eine Stunde in der Karaffe stehen, machen sich diese Reaktionen bemerkbar. Der Sauerstoff reagiert zum Beispiel mit Polyphenolen im Wein, was ganze Reaktionskaskaden auslöst, die gut untersucht und bekannt sind. Mit Spuren von Eisen und Kupfer bilden sich hochreaktive Radikale, die rasch mit anderen Inhaltsstoffen des Weins abreagieren. All diese Reaktionen finden über Jahre in der verschlossenen Flasche statt, weil kontinuierlich geringste Mengen von Sauerstoff durch den Korken diffundieren. Ist der Wein in der Karaffe mit Sauerstoff gesättigt, laufen diese Reaktionen um Zehnerpotenzen schneller ab. Will man die Sättigung mit Sauerstoff und auch das Verfliegen störender Stoffe beschleunigen, kann man den Wein doppelt oder mehrfach umgießen oder in einer breitbauchigen Karaffe durch Schwenken heftig rotieren lassen. Dennoch passieren die chemischen Reaktionen nicht in Minuten, sondern über mehrere Stunden. Deshalb kann man einen alten Wein problemlos dekantieren, ohne dass ihm der Sauerstoff schadet. Einen fragilen alten Wein sollte man aber nicht lange in einer Karaffe stehen lassen, sondern unmittelbar vor dem Trinken dekantieren. Schlanke Dekanter, in denen der Wein nur eine kleine Kontaktfläche mit der Luft hat, sind dafür besser geeignet als breitbauchige Karaffen, die zum Belüften eines Weins dienen sollen. Ein alter Wein ist entweder bereits oxidiert und kaputt, wenn man den Korken herausoperiert, oder er überlebt auch das Dekantieren.
Aber welchen Wein sollte ich nun dekantieren, und welchen karaffieren, also an der Luft in der Karaffe atmen lassen? Für das Dekantieren ist die Frage einfach zu beantworten: ein Wein, der Depot gebildet hat, sollte dekantiert werden. Für das Karaffieren gibt es keine pauschale Antwort. Als Faustregel gilt: je jünger der Wein, je adstringierender seine Tannine, desto länger sollte der Wein belüftet werden. Nur ganz junge Weine, die man noch in ihrer primären Fruchtphase probieren möchte, sollte man aus der Flasche probieren und erst dann ggf. karaffieren. Generell empfiehlt es sich, nach dem Öffnen der Flasche einen Probeschluck zu nehmen und dann zu entscheiden, ob man den Wein in eine Karaffe füllt. Wirkt er harsch oder zusammengeschnürt, wird ihm die Luft guttun. Alte Weine jenseits der 70 Jahre zeigen manchmal einen stumpfen Muffton, der an alten, nassen Pappkarton erinnert. Auch das ist ein klarer Fall für die Karaffe: solche Mufftöne verfliegen oft an der Luft. Nur gegen einen Korkfehler, also TCA hilft das Belüften nichts. Dieser Fehlton wird mit der Zeit immer schlimmer.
Übrigens profitieren nicht nur Rot- und Weißweine vom Karaffieren, auch gute Champagner, insbesondere Jahrgangsschampagner darf man gerne in eine breite Karaffe umfüllen. Es ist enorm, wie manche Champagner dadurch aufblühen. Und keine Angst: das Mousseux geht dadurch nicht verloren.